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Aus dem Scheitern in Afghanistan lernen

Mit dem internationalen Abzug im August 2021 wurde das Scheitern des Einsatzes in Afghanistan offensichtlich. Die Bilder verzweifelter Menschen auf dem Kabuler Flughafen stehen für eine furchtbare Tragödie und einen massiven Verlust an Glaubwürdigkeit im Kontext des „Kriegs gegen den Terror“. Das deutsche Engagement am Hindukusch soll nun von Parlament und Wissenschaft aufgearbeitet werden.

Von Dr. Martina Fischer am
Leave no one behind

Regierungs- und Parlamentsviertel Berlin

Am 7. Juli hat der Bundestag mehrheitlich einen Antrag für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr angenommen, der von den Regierungsfraktionen gemeinsam mit der CDU/CSU vorbereitet wurde. Am 8. Juli entschied der Bundestag zudem, eine Enquetekommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ einzusetzen, die den mehr als zwanzig Jahre währenden Einsatz am Hindukusch in umfassender Weise auswerten soll.

Untersuchungsausschuss und Enquetekommission

Der Untersuchungsausschuss wird von SPD-MdB Ralf Stegner geleitet und enthält insgesamt 38 Punkte. Die zielen unter anderem auf die Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan durch Bundesministerien, Bundesbehörden und Nachrichtendienste, auf deren Informationsaustausch, sowie auf die Zuständigkeiten bei der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personenkreise. Auch die Kooperation mit ausländischen Akteuren und Nachrichtendiensten auf europäischer, transatlantischer und internationaler Ebene und die Vorbereitung auf die Entscheidungen von Verbündeten (USA und Frankreich) sowie die Einflussnahme der Bundesregierung auf die Verhandlungen mit den Taliban (Doha-Abkommen) sollen beleuchtet werden. Weitere Fragen zielen auf die Erstellung von Lageeinschätzungen und die Zuständigkeit bei der militärischen Evakuierung. Dabei geht es um die Rolle des Bundeskanzleramts sowie der Ministerien für Verteidigung, Auswärtiges, Inneres und Entwicklung. Der Ausschuss soll zudem Empfehlungen geben, „ob und inwiefern aus dem vorliegenden Untersuchungsthema Schlussfolgerungen“ für zukünftige Missionen gezogen werden sollen.

Während sich der Untersuchungsausschuss also vorrangig mitdem Abzug und der Evakuierung beschäftigt, soll die Enquete-Kommission das gesamte deutsche außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Engagement in Afghanistan zwischen 2001 und 2021 aufarbeiten. Sie wird sich aus Abgeordneten und Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis zusammensetzen und dem Parlament einen Bericht mit Empfehlungen für die Gesetzgebung vorlegen. Nach dem Willen der Regierungs- und der Unionsfraktion soll sie die Einsätze der Bundeswehr und die damit verbundenen Herausforderungen umfassend analysieren und aus dem zwei Jahrzehnte währenden Einsatz Erkenntnisse für das zukünftige internationale Engagement Deutschlands und den sogenannten „Vernetzten Ansatz“ ableiten. Der Enquete-Kommission sollen zwölf Bundestagsmitglieder und zwölf Sachverständige angehören. Ihre Ergebnisse und Handlungsempfehlungen soll sie im Herbst 2024 vorlegen.

Viele Fragen stehen im Raum

  • Im Hinblick auf den Abzug der deutschen militärischen und zivilen Kräfte stehen viele Fragen im Raum:
  • Warum wurde die Ausreise von Ortskräften und gefährdeten Vertragspartner*innen nicht parallel zum Abzug der Bundeswehr organisiert?
  • Wieso hat die Regierung bis Mitte August 2021 nur für einen Bruchteil der Schutzbedürftigen Visa erteilt?
  • Wie kam sie dazu, die Zahl des gefährdeten Personals herunterzurechnen und auf ein Minimum zu beschränken (Ortskräfte der Bundeswehr seit 2013, Vertragspartner des Auswärtigen Amts und der Entwicklungszusammenarbeit nur aus den letzten zwei Jahren, und von NGO-Partnern war zunächst gar nicht die Rede)?

Dieses Vorgehen war kleinlich, selektiv und zynisch. Schließlich sind alle, die in den letzten zwanzig Jahren mit ausländischen Organisationen kooperierten, bedroht. Den Afghan*innen wurde Sicherheit versprochen, aber viele wurden im Stich gelassen. Nach Recherchen der Linksfraktion im Bundestag wurden bis Mitte Dezember 2021 nur 28,7 Prozent der gefährdeten Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen nach Deutschland in Sicherheit gebracht (7.030 von 24.556). Nach einem Bericht von Human Rights Watch sind seither mehr als 100 ehemalige Sicherheitskräfte hingerichtet worden oder nach Festnahmen „verschwunden“. In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion wurde publik, dass bis Mitte Februar 2022 von den rund 30.000 Personen mit Aufnahmezusagen nur knapp die Hälfte (14.000) nach Deutschland einreisen konnten; einige kamen ums Leben, noch bevor sie hätten ausreisen können. Die Versäumnisse der deutschen Behörden haben also für zahlreiche afghanische Familien verheerende Auswirkungen.

Erwartungen an die Aufarbeitung

Ursprünglich war die Einsetzung beines Parlamentsausschusses schon für März 2022 geplant. Weil das Auswärtige Amt durch den Ukrainekrieg absorbiert war und man sich mit der CDU/CSU-Opposition abstimmen und gleichzeitig auch eine Enquetekommission vorbereiten wollte, verzögerte sich das Vorhaben. Die spannende Frage ist: Wird die Arbeit der beiden Gremien Lernprozesse unterstützen und Politik tatsächlich verändern, oder den Einsatz nur nachträglich legitimieren? Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss sollte die Rolle der beteiligten Ministerien und das Versagen beim Schutz von Partnern und Ortskräften schonungslos durchleuchten und aufklären. Er müsste den weiter oben formulierten Fragen konsequent nachgehen und auch Vorschläge dazu machen, was mit den Menschen geschehen soll, die bis heute auf die Einlösung des Schutzversprechens warten. Die Enquetekommission wiederum sollte das Handeln deutscher militärischer und ziviler Kräfte in Afghanistan im Bündniskontext analysieren und nach den Wirkungen fragen:

  • Wie wurde der regionale Kontext analysiert?
  • Mit welchen Interessen, Zielsetzungen war die deutsche Regierung unterwegs und welche Ziele verfolgten die Verbündeten? Waren die Ziele kompatibel? Wo entstanden Zielkonflikte?
  • Waren die Strategien angemessen und wurden sie einem dynamischen Umfeld angepasst?
  • Wie haben die Ressorts kooperiert und wie kann man Regierungshandeln kohärenter gestalten?
  • Welche Wirkungen - und welche unbeabsichtigten Nebenwirkungen – wurden erzielt?

Die Kommission sollte nicht nur klären: „Was muss beim nächsten Mal besser laufen?“, sondern sich auch ernsthaft fragen: Sollte es überhaupt ein nächstes Mal geben? Ist es zielführend, in entfernten Weltregionen Kriegseinsätze zu unterstützen und parallel dazu in Wiederaufbau, Entwicklung und Demokratisierung zu investieren? Und man sollte sich fragen: Welche Alternativen gibt es zum militärischen Umgang mit gewaltsamen Extremisten? Um grundlegende Fragen zu erörtern und überzeugend zu beantworten, müsste die Kommission neben unabhängigen Wissenschaftler*innen auch Regionalexpert*innen aus NGOs, sowie frühere afghanische „Ortskräfte“ und Partner*innen aus der Friedens- und Menschenrechtsarbeit einbeziehen und anhören. Nur so kann eine Kommission zur Lernplattform für Parlament und Zivilgesellschaft werden und einen Mehrwert schaffen.

Impulse aus der Wissenschaft und Zivilgesellschaft

Fachleute aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft lieferten schon bei anderen Gelegenheiten wichtige Anhaltspunkte für die Aufarbeitung, etwa beim Berlin Peace Dialogue, der am 7.10.2021 vom Beirat Zivile Krisenprävention ausgerichtet wurde. Dieser berät die Regierung bei der Umsetzung der Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (2017). Das Vorgehen der westlichen Verbündeten wurde als inkonsistent beschrieben: Die Entscheidung, frühere Warlords an der Regierung zu beteiligen, habe Bemühungen, das Land politisch zu einen, untergraben. Durch Korruption und Betrug sei das Vertrauen in politische Strukturen zerstört wurden (vgl. die Studie der norwegischen Regierung) (3). Die ausländische Militärpräsenz sei mehr und mehr als Besatzung empfunden worden. „Krieg und Entwicklung passen nicht zusammen“, lautete die Schlussfolgerung eines politischen Entscheidungsträgers, und dass man das viel früher hätte einsehen müssen. Es wurde kritisiert, dass ein Mehrfaches an Mitteln in den Militäreinsatz investiert wurde, verglichen mit den Ausgaben für zivilen Aufbau und Entwicklung. Gleichzeitig seien die Strategien von unrealistischen und überzogenen Erwartungen geprägt gewesen. Der Versuch, westliche Werte und Politikvorstellungen zu verankern, sei gescheitert, ebenso wie das Bestreben, in einem dezentral organisierten Land zentralistische Verwaltungskonzepte zu etablieren. Die Unvereinbarkeit der Ziele wurde nachdrücklich betont, und dass die Beteiligten die militärische Niederlage nicht wahrhaben wollten: Sie hätten sich in „Echokammern“ bewegt, ohne dazuzulernen und Fakten und Analysen, die eine differenziertere Lagebeurteilung ermöglicht hätten, über Jahre hin ignoriert.

Letztlich war das westliche Engagement in Afghanistan von sehr vielen unterschiedlichen Interessen und Konzepten geleitet: Es startete 2001 nach Ausrufung des Bündnisfalls durch die USA als Kriegseinsatz und wurde später auf Initiative Deutschlands (Konferenz auf dem Bonner Petersberg) um Wiederaufbau und Entwicklung, Schaffung demokratischer Institutionen und Unterstützung der Zivilgesellschaft ergänzt. Während es den USA hauptsächlich um den militärischen Sieg über Al Quaeda, Osama Bin Laden und die Verdrängung der Taliban im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ (OEF) ging, setzten deutsche Verantwortliche vor allem auf zivil-militärische Zusammenarbeit und Sicherheitssektorreform, Wiederaufbau und Entwicklung, was durch die UN-mandatierte ISAF abgesichert werden sollte. Da extremistische Netzwerke jedoch an Terrain gewannen, betrieben am Ende OEF und ISAF gemeinsam militärische Aufstandsbekämpfung unter demselben (US-amerikanischen) Oberkommando. So änderte sich die Wahrnehmung der ISAF und die Militärpräsenz verlor insgesamt an Akzeptanz. Dieses Vorgehen und auch der Versuch, im Rahmen eines Kriegseinsatzes in einer kulturell völlig anders geprägten Weltregion westliche Werte und Politikvorstellungen zu verankern, muss angesichts der oben genannten Befunde grundsätzlich hinterfragt werden. Auch NGOs aus der Entwicklungs- und Friedensarbeit und aus der Humanitären Hilfe sollten sich an der Aufarbeitung der internationalen Aktivitäten in Afghanistan beteiligen. Nicht nur die Bundeswehr hat dort Partner in Gefahr und Ungewissheit zurückgelassen, sondern auch entwicklungspolitische Agenturen und NGOs. Der Verlust an Glaubwürdigkeit betrifft alle gleichermaßen. Auch NGOs müssen sich fragen, wie man Partner besser schützen kann, und wie weit sie sich in widersprüchliche Projekte des „Nationbuilding“ einbinden lassen, in denen sie keinen Einfluss auf die Entscheidungen internationaler Akteure haben.

Evaluierung von Auslandseinsätzen ist zwingend

Unabhängig von den Ergebnissen der nun beschlossenen Gremien sollte der Deutsche Bundestag schon jetzt Vorkehrungen dafür treffen, dass sich Fehlschläge vergleichbaren Ausmaßes nicht wiederholen. Er sollte umgehend beschließen, dass zivile und militärische Auslandseinsätze einem engmaschigen und fortlaufenden Monitoring unterzogen werden. Seit 2006 haben sich einige Bundestagsabgeordnete vergeblich für eine ressortübergreifende Strategieüberprüfung in Afghanistan eingesetzt. (4) Im November 2020 beschlossen das Auswärtige Amt, das Entwicklungs- und das Innenministerium zwar eine „ressortgemeinsame Evaluierung" des zivilen deutschen Engagements rückwirkend ab 2013. Das Verteidigungsministerium bestand jedoch darauf, das militärische Engagement anhand von Auswertungen der Einsatzkontingente separat zu bewerten. Ex-Post-Evaluierungen bergen jedoch diverse Risiken: Sie können dazu verwandt werden, den Militäreinsatz gegen ein kritisches Resümee zu immunisieren, erst recht, wenn sie durch politische Vorgaben eingeengt werden. Eine ehrliche Evaluierung müsse ergebnisoffen angelegt werden, meinen die Friedensforscher Matthias Dembinski und Thorsten Gromes. Sie müsse untersuchen, ob die Akteure scheiterten, weil sie unrealistische Ziele verfolgten oder weil diese Ziele mit den Interessen und der Handlungslogik, der die afghanischen Partner unterlagen, nicht übereinzubringen waren.

Begleitende Auswertung würde Politikkohärenz steigern

Zivile und militärische Auslandseinsätze benötigen fortlaufende Evaluierungen, die das Zusammenwirken von Akteuren und Wirkung erfassen. Was für Afghanistan versäumt wurde, sollte umgehend für weitere Einsätze, etwa in der Sahel-Region, auf den Weg gebracht werden. Auch dort stellt sich die Frage, ob und wie man sich angesichts zunehmender Gewaltdynamik weiter engagieren kann. Expert*innen aus dem Sahel kritisieren verfehlte Strategien und fordern von Deutschland und der EU, sich stärker für den Schutz der lokalen Bevölkerung einzusetzen. Auch da gilt es, Strategien neu auszurichten. Eine begleitende Auswertung aller Auslandseinsätze würde kohärente Politik begünstigen. So könnte man vielleicht eine glaubwürdige Außen-, Sicherheits-, und Entwicklungspolitik gestalten, die sich am “do no harm"-Grundsatz orientiert und Schaden vermeidet. Diesem Ziel hat sich Deutschland 2017 mit den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ und der damit verknüpften ressortgemeinsamen Strategie zur Sicherheitssektorreform explizit verpflichtet. 

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